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Wo waren wir stehengeblieben? Im letzten Beitrag wurden die Begriffe "Trageerschöpfung", "Top-Line-Syndrom" und “myofasziale Dysfunktion” neu gefasst als „Progressiver Struktur- und Funktionsverlust“. Einerseits, um genauer zu definieren, worum es sich dabei handelt, und andererseits, um den Begriff “Trageerschöpfung” international anschlussfähig zu machen. Dass die Abkürzung PSF im Englischen wie im Deutschen gleich ist und (meines Wissens) im tiermedizinischen Sprachgebrauch noch nicht existiert, ist dabei sehr hilfreich.
Für mich entscheidend ist, dass dieser Prozess a) in den meisten Fällen umkehrbar ist (auch wenn es natürlich gewisse Kipppunkte gibt), b) nicht isoliert in bestimmten Körperteilen therapierbar oder umtrainierbar ist und c) die Selbstorganisationsfähigkeit des Pferdekörpers im Zentrum der Betrachtung stehen sollte.
Diese Selbstorganisationsfähigkeit wird, wenn man die vielen Symptome und Probleme lange genug einkocht, durch zwei Aspekte negativ beeinflusst: Schlechte Gewohnheiten und Schmerzen. Doch, es ist wirklich so. Diese zwei Aspekte bedingen sich durchaus gegenseitig, aber alle anderen Faktoren münden schlussendlich in diese zwei.
Das heißt, wir müssen für Schmerzfreiheit sorgen und für gute Gewohnheiten.
Also weiter mit Schmerztabletten und positivem Denken? Nein. Zuerst muss abgestellt oder entsorgt werden, was Schmerzen bereitet: Einschränkende Haltungsbedingungen, unphysiologisches Training, unpassende Sättel, Zahnprobleme, schlechte Hufbearbeitung etc. Nur das beliebte Lösen gehört hier (sorry, folks!) nicht zu den zielführendsten Maßnahmen.
Und dann geht es an die guten Gewohnheiten. Das ist für viele sehr schwer zu verstehen, aber ein Leben mit guten Gewohnheiten reduziert Gesundheitsprobleme dramatisch - und das sehr kostengünstig..
Hier ist die Gestaltung der Lebenswirklichkeit der Schlüssel
Pferdekörper organisieren sich am besten in realen Situationen, in ihrer tatsächlichen Umwelt und wenn sie etwas wollen. Das ist wie beim menschlichen Körper auch, er braucht einen Anreiz, und eine gute Gewohnheit ist ein solcher Anreiz.
Funktionale Belastung entsteht im Alltag: beim Aufstehen, Gehen, Buckeln, Bocken, Rennen, Fressen, Spielen, im Kontakt mit Herdenmitgliedern oder unterwegs im Gelände. Ein wirklich guter, großer Paddock Trail könnte den Bewegungsbedarf eines aktiven ungerittenen Pferdes fast decken. Die Lebenswirklichkeit auf einem solchen Trail bietet viele Möglichkeiten für die Entwicklung gesunder Gewohnheiten.
Training, das auf dieser „Lebenswirklichkeit“ aufbaut, ist bereits eine zielführende Therapie. Ein solches Training beginnt mit der Erweiterung der Trailwege durch gemeinsame Wanderungen im Gelände. Damit ist der Anfang für eine Progressive Struktur- und Funktionsentwicklung bei Pferd und Mensch gemacht.
Klassische Trainings- oder Therapieprogramme arbeiten meistens mit isolierten Maßnahmen und Übungen („Lösen von Muskel A und Übung XY für Muskel B“). Das ist eine Therapie am Problem, aber nicht an der Ursache. Die therapeutische Intervention greift zu kurz, weil sie den systemischen Charakter der Funktionsstörung ignoriert. Nur wenn der Organismus in realen Situationen gefordert wird, kann sich das gesamte System neu organisieren. Dabei wird dann viel weniger Muskelkraft benötigt als im kompensatorischen “Aufbautraining”.
Ziel bei der “Behandlung“ des Progressiven Struktur- und Funktionsverlustes muss die Wiederherstellung struktureller Funktionalität in allen Bereichen der Lebenswirklichkeit des Pferdes sein.
Der progressive Struktur- und Funktionsverlust ist damit nicht einfach ein Defizit, das therapeutisch „behoben“ wird, sondern eine Aufforderung, den Alltag von Pferden so zu gestalten, dass Lebenswirklichkeit und Training jegliche Therapie überflüssig werden lassen.