Viele ReiterInnen denken, dass Biotensegrität ein etwas seltsames, abgehobenes Konzept ist, zu dem ohnehin Uneinigkeit herrscht - und dass diese komische “Gebrauchshaltung“ so eine spezielle Nische darstellt, dass man damit “nur” ein bißchen im Gelände rumreiten kann, sie aber für weitere Ambitionen nicht taugt. Das ist beides falsch.
Es geht um die Anwendung einfacher Prinzipien, von der Grundausbildung bis zur spezialisierten Höchstleistung. Die Prinzipien sind immer die gleichen!
Was ihr mit den Prinzipien der Gebrauchshaltungsarbeit macht, ist letztlich nur abhängig von euren Vorlieben (und denen eures Pferdes) und der Zeit und Energie, die ihr aufbringen könnt und möchtet.
Suzanne Burtscher und Karajol haben damit nach einem Fesselträgerschaden ihren Weg zurück in den Distanzsport gefunden. Hier ist ihre Geschichte:
“Themen wie Schiefe, Überlastung und daraus resultierende Verletzungen stellen uns im (Distanz)Sport vor Herausforderungen und machen uns manchmal ratlos, vor allem im Spitzensport, wo Strecken bis 160km an einem Tag mit Geschwindigkeiten zwischen 18-20 km/h geritten werden. Unser Pferd Karajol ist mittlerweile 16 Jahre alt und hat schon viele und schnelle Kilometer in seinen Knochen. Im Laufe seiner Sportkarriere gab es so allerlei Befunde wie Facettengelenksarthrose in der unteren HWS und in der LWS, ISG-Arthrose, ein Chip im Fesselgelenk und schlussendlich diese Verletzung im Fesselträgerschenkel im Jahr 2023. Herausgefunden wurde das mit allen gängigen Diagnoseverfahren aufgrund von Lahmheiten, Rückenschmerzen, ect.
Besonders schlimm war für mich, dass ich als langjährige Tierphysiotherapeutin und Osteopathin meinem Pferd nicht nachhaltig helfen konnte. Das tat weh!
Da saßen wir nun vor 1.5 Jahren im Tierspital vor dem Computerbildschirm und starrten auf das schwarze Loch, welches uns der Ultraschall zeigte. Eine Läsion im Fesselträgerschenkel. Die erstmal erschütternde Diagnose und die herausfordernde Zeit der Rehabilitation entpuppten sich als grosse Chance. Was wir dachten, über die Zusammenhänge von Schiefen, Schwächen und Asymmetrien und daraus resultierende Überlastungsverletzungen zu wissen, stellten wir mit dieser Diagnose plötzlich sehr in Frage.
Wie konnte es möglich sein, dass wir durchgehend seine Bewegungen analysierten, die Bemuskelung seiner Körperhälften verglichen, Zusammenhänge versuchten zu erschließen und immer wieder neue Dinge ausprobierten und trotzdem an diesem Punkt standen?
Durch drei scheinbar zufällige Klicks im Internet (ich suchte eigentlich etwas über ECVM) stieß ich auf Maren Diehl und die Biotensegrität im (Pferde)Körper. Weitere Monate vergingen, in denen wir während Karajols Rehabilitation ausprobierten, was ich in den Kursen von Maren lernte. Es war weniger eine Schritt-für-Schritt-Anleitung, sondern eher ein Erkunden und Entdecken von neuen Bewegungen, von Fühlen und Zulassen. Wir verstanden, dass Spannung nicht zwingend Verspannung sein muss, sondern Stabilität bedeuten kann und von anzunehmen, dass es gestern vielleicht funktioniert hatte und heute eben nicht und dass morgen wieder ein neuer Tag ist, an dem man üben darf.
Wir haben wichtige Veränderungen in unserem Mindset bemerkt und dadurch auch viel weniger Druck und Besorgnis. Stattdessen haben wir wieder viel mehr Spass am Reiten.
Nach vielen Monaten hat Karajol trotz Auf und Ab grosse Fortschritte gemacht, die uns das Vertrauen in den biotensegralen Ansatz geben. Er kann rhythmischer traben und galoppieren, er belastet sein schwächeres rechtes Hinterbein im Galopp jetzt physiologischer (folgend weniger schräg), er kann eher aus der Kraft seines ganzen Körpers schöpfen als nur aus einzelnen Teilen davon. In brenzligen Situationen gibt es die Möglichkeit, eine Verbindung zu ihm zu finden, die Reiterin und Pferd verstehen und die beiden Sicherheit gibt. Er wurde mehr Eins mit sich und auch aus zwei Körpern wurden mehr Eins ??
Wir haben gelernt, dass vollkommene Perfektion (insbesondere vollkommene Symmetrie) kein Voraussetzung für physiologische Bewegungen ist, sondern man sich ihr auf dem Weg funktionaler Bewegungsorganisation annähert. Wir können dem Pferd die Möglichkeit bieten, sich zu stabilisieren, zu balancieren und auf äußere Umstände zu reagieren (Bodenverhältnisse, Geschwindigkeit, ...). Der Ansatz regt uns an, unseren eigenen, individuellen Weg zu gehen, ZUSAMMEN mit unserem Pferd und FÜR unser Pferd.
Ich sehe im biotensegralen Ansatz eine grosse Chance für uns als Distanzreiterinnen. Nicht nur, weil er Antworten auf viele unserer Fragen gibt, sondern auch weil die Mentalität «Zusammen mit dem Pferd für unser Pferd» tief in uns allen steckt und uns antreibt!
Ich glaube nicht, dass wir am gleichen Punkt stehen würden, wenn ich nicht über Marens Wissen gestolpert wäre und dies in mir eine so große Resonanz und Begeisterung ausgelöst hätte, dass ich so Lust darauf hatte, das auszuprobieren.
Das Wissen und Experimentieren mit dem biotensegralen Ansatz verändert nicht nur die Pferde, sondern auch ihre Menschen!
Danke Maren!
PS: Im Mai dieses Jahres hat Karajol seinen ersten internationalen Start über 100km erfolgreich gemeistert. Das macht Lust auf mehr!”
Dazu möchte ich noch schreiben, dass Karajol es sehr offensichtlich hasste, unter seinen Möglichkeiten zu laufen. Er war anfangs immer wieder ablehnend und unwillig, zeigte in den niedrigeren Tempi so konsequent negative Bewegungsmuster, dass ich mich fragte, wie dieses Pferd jemals mehr als 20km am Stück gelaufen sein sollte. Gleichzeitig hatte er aber auch noch keine tierärztliche Freigabe für das, was er gerne wollte. Es war also ein ziemlich schwieriger Weg zurück ins Glück, da er mit der gleichen Härte, die ihn über 160km laufen ließ, auch seine fehlende Begeisterung für Pillepalle (wozu unter anderem jegliches Bahntraining zählt) demonstrierte.
Ich freue mich unglaublich für Karajol, dass er wieder tun kann, was er so liebt und wünsche ihm - und natürlich auch seinen Reiterinnen -, dass er das auch noch lange tun kann.
Schön finde ich, dass dieser Bericht bei den anderen Teilnehmenden des Pioneers-Kurses die neugierige Frage aufkommen ließ, wie man denn bitte für 160 Kilometer trainiert und wie eine Stunde Galopp so als Reiterin zu meistern ist.