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Durch meinen internationalen Austausch ist mir - mal wieder - klargeworden, dass wir einen international anschlussfähigen Begriff für den unzureichend definierten Symptomkomplex “Trageerschöpfung” benötigen. Ich habe über die Jahre bereits mehrfach erfolglos an der Übersetzung des Begriffs ins Englische herumgedoktert, aber nun gefällt mir das Ergebnis recht gut:
Progressiver Struktur- und Funktionsverlust – eine Neubetrachtung des Begriffes der „Trageerschöpfung“ aus biotensegraler Perspektive
Der Begriff „Trageerschöpfung“ wurde von Tanja Richter geprägt und erstmals in ihrem Buch “Illusion Pferdeosteopathie" beschrieben. Er diente als Oberbegriff für eine Häufung von Symptomen, die seit den 2000er-Jahren bei immer mehr Pferden beobachtet wurden – so häufig, dass es aus damaliger Sicht fast wie eine Epidemie wirkte. Tanja Richter fasste unter diesem Namen ein breites Spektrum an Auffälligkeiten zusammen, die alle mit einer nachlassenden Tragfähigkeit und Stabilität des Pferdekörpers und vorzeitigem Verschleiß in Verbindung standen. Heute finden auch die Begriffe “Topline-Syndrom” und “myofasziale Dysfunktion” Verwendung.
Das Problem (abgesehen von der Unübersetzbarkeit): Der Begriff „Trageerschöpfung“ impliziert, dass Erholung durch Ruhe oder Schonung zu einer Wiederherstellung der Tragkraft führen könnte. Tatsächlich handelt es sich jedoch nicht um eine Ermüdung im klassischen Sinne, sondern um einen fortschreitenden Verlust an struktureller Belastbarkeit und funktionaler Organisation, also um einen Prozess, der vor allem durch Nicht-Nutzung oder falsche Nutzung der körpereigenen Möglichkeiten in Alltag und Training ausgelöst wird.
Wo “Trageerschöpfung” eine unzutreffende Ursache beschreibt, reduziert “Topline-Syndrom” auf optische Auffälligkeiten, während “myofasziale Dysfunktion” ein defizitäres, aber durch therapeutische Intervention vermeintlich reparierbares System zu beschreiben versucht.
Keiner dieser Begriffe berücksichtigt die systemischen Ursachen des Trageerschöpfungssyndroms, was sowohl die Einordnung der individuellen Problematik als auch die Wahl der geeigneten Therapie erschwert.
Selbstorganisation als Schlüssel zur Rehabilitation
Im Konzept der Biotensegrität – dem strukturellen Organisationsprinzip des lebenden Körpers – werden Struktur und Funktion als im Prozess verbunden verstanden.
Struktur und Funktion bedingen einander: Eine belastbare Struktur ermöglicht funktionale Bewegung, und funktionale Bewegung stärkt die Struktur. Wird diese Wechselwirkung über längere Zeit eingeschränkt oder unterbrochen, beginnt ein fortschreitender Abbau – sowohl auf struktureller als auch auf funktionaler Ebene.
Der progressive Struktur- und Funktionsverlust (ein Begriff, der übersetzbar und damit international anschlussfähig ist) betrifft damit nicht nur einzelne Körperregionen, sondern stellt eine globale Funktionsstörung des gesamten Organismus dar, die sich in der Folge auch auf Stoffwechsel und Atemwege auswirkt. Es handelt sich also nicht um eine lokale myofasziale Dysfunktion des Rumpftrageapparates und seiner Teile oder um muskuläre Defizite in der Oberlinie, sondern um ein umfassendes Nicht-Nutzen der vorhandenen funktionalen Möglichkeiten aufgrund von schlechten Gewohnheiten (zu denen auch Haltung und Training zählen), unpassender Hufbearbeitung und/oder Schmerzen.
Die zentrale Ressource für Regeneration ist die biotensegrale Selbstorganisationsfähigkeit – die Fähigkeit des Körpers, sich in Interaktion mit seiner Umwelt selbst in eine belastbare, funktionale Ordnung zu bringen.
Diese Fähigkeit muss sowohl im Alltag als auch im Training gezielt angesprochen werden. Erst wenn das Pferd die Chance erhält, in realen Bewegungssituationen seine funktionale Organisation zu aktivieren, können Struktur und Funktion wieder gemeinsam wachsen. In den meisten Fällen ist der Prozess des progressiven Struktur- und Funktionsverlustes umkehrbar, oft mit deutlich sichtbaren Veränderungen bereits innerhalb der ersten Tage. Unumkehrbar wird er dann, wenn entscheidende strukturelle Elemente irreversibel geschädigt werden, wie etwa durch eine Tenotomie (Sehnenschnitt). Solche Eingriffe sind als Palliativmaßnahmen zu betrachten, denn sie zerstören dauerhaft wesentliche Anteile der tensegralen Struktur und schließen damit die vollständige Wiederherstellung der Selbstorganisation und der damit verbundenen Vitalfunktionen aus.
Die biotensegrale Perspektive zeigt, dass der Weg aus diesem Prozess heraus nicht über isolierte Therapieansätze oder künstlich konstruierte Trainingsübungen führt, sondern über die Wiederherstellung struktureller Funktionalität im echten Leben des Pferdes – in einer Umgebung und mit einem Training, die funktionale Bewegung ermöglichen, herausfordern und belohnen. In diesem Fall ist das Erfahren von Selbstwirksamkeit für das Pferd die größte Belohnung überhaupt!
Und weiter?
Vor allem denjenigen, die sich bereits umfassend mit Biotensegrität in Zusammenhang mit Pferdetraining und Pferdegesundheit befasst haben, möchte ich vorschlagen, den Begriff “progressiver Struktur- und Funktionsverlust” (Progressive Structural and Functional Decline) bewusst neu im Kontext der Pferdegesundheit einzuführen, weil er präzise beschreibt, worum es wirklich geht: einen schleichenden, systemischen Abbau, der Struktur und Funktion betrifft. Dieser Begriff steht in klarer Abgrenzung zu unscharfen, teilweise irreführenden Bezeichnungen wie Trageerschöpfung, -ermüdung, myofaziale Dysfunktion oder Topline-Syndrom und erleichtert eine sinnvolle Zuordnung von Symptomen.
Während der Begriff Trageerschöpfung bislang vor allem in der therapeutischen Szene verwendet wurde, soll das neue Konzept des progressiven Struktur- und Funktionsverlustes weiter greifen. Es bietet einen Bezugsrahmen, der nicht nur für Therapeut:innen, sondern ebenso für Tierärzt:innen, Wissenschaftler:innen, Hufbearbeiter:innen, Trainer:innen und Reiter:innen hilfreich ist. Damit hat der Begriff das Potenzial, Welten zu verbinden und eine gemeinsame Sprache für ein systemisches Problem in der Pferdegesundheit zu schaffen.